zuwanderer
Seit 1991 sind in Würzburg und Umgebung mehr als 1000 Menschen als sogenannte “Kontingentflüchtlinge” aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion zur Gemeinde gestoßen. Die Zuwanderung wird durch ein Programm der Bundesregierung gefördert. Ziel dieses Programms ist es, dem durch den Naziterror beinahe vernichteten deutschen Judentum neue Energien zuzuführen. Die Aufnahme der Zuwanderer wird durch das aus dem Jahr 1980 stammende und zuletzt 1997 geänderte “Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge” (“Kontingentflüchtlingsgesetz”) geregelt.
90 % der in Unterfranken angesiedelten Einwanderer stammen aus dem europäischen Teil der ehemaligen Sowjetunion, meistens aus großen Städten wie Moskau, Kiew, St. Petersburg, Odessa, oder aus kleineren Städten Rußlands, Weißrußlands und der Ukraine. Zu den Motiven, die diese Juden zum Auswandern veranlassen, gehören Nationalitätskonflikte, Umweltkrisen (z. B. Tschernobyl), Perspektivlosigkeit, fehlende soziale Absicherung, berufliche Beschränkungen und Instabilität der politischen und wirtschaftlichen Lage sowie insbesondere auch ein andauernder öffentlicher Antisemitismus. 60 % der erwachsenen Zuwanderer haben eine akademische Ausbildung. Ungefähr 2 % haben keinen beruflichen Abschluss.
Die frühere Heimat von Marat Guerchikov war St. Petersburg
Die Jüdische Gemeinde Würzburg und Unterfranken will den Zuwanderern auf ihre Weise helfen in der neuen Umgebung Fuß zu fassen. Eine traditionell freundliche und tolerante Atmosphäre soll einen psychologischen Anker bieten. Nicht nur den Kindern und Jugendlichen, auch den Erwachsenen gegenüber ist man bemüht, die Grundlagen jüdischer Religion, Geschichte und Sprache zu vermitteln. Es gibt Sprach- und Konversationkurse, eine Krabbelgruppe, ein Jugendzentrum, Sportgruppen, eine Tanzgruppe, einen Chor und einen Frauenclub, verschiedene integrative soziale Projekte, den Jüdischen Sozio-Kulturellen Verein. Es werden Gespräche, Musikabende, Ausstellungen, auch in Eigenregie der Zuwanderer, durchgeführt. In einem Computerraum werden Erwachsenen und Kindern Computerkurse angeboten. Das Angebot umfasst des weiteren Förderunterricht in Mathematik und in den Naturwissenschaften. In dem Gebäude gibt es eine Bibliothek und eine Videothek. Jüdische Kinder und Jugendliche besuchen den Religionsunterricht, für den es derzeit zwei Religionslehrer gibt. Eine Hilfe bei der Jugendarbeit bietet auch das funktionierende Jugendzentrum „Mi Lev“.
Informationen über die verschiedenen Einrichtungen siehe auch unter Daten/Fakten.
Der „Kulturschock“ des Wechsels in ein neues Gesellschaftssystem bringt für die Zuwanderer vielfältige Schwierigkeiten im familiären, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Bereich mit sich. Sie müssen erkennen, dass sie in ein Land gekommen sind, das sich mit dem im Herkunftsland zurechtgelegten Deutschlandbild nicht oder nur bedingt deckt. Die Strukturen einer hochindustrialisierten Leistungs- und Konsumgesellschaft sind für sie neu.
Die Akzeptanz der jüdische Zuwanderer ist, ähnlich wie die der Spätaussiedler, nicht selbstverständlich. Gleichgültigkeit bis hin zu starker Ablehnung sind nicht selten. Bei den Einheimischen ergeben sich dann Probleme, wenn man aufgrund der Zuwanderung Engpässe im eigenen Alltag spürt, etwa in der Beschaffung von Wohnraum und Arbeitsplätzen. Wenn der Verdacht aufkommt, die neuen Bürger würden bevorzugt, werden diese als unliebsame Konkurrenz empfunden.
Unter den erwachsenen Zuwanderern wird der Druck der Umstellung dann als belastend empfunden, wenn sie feststellen, dass sie beispielsweise nach dem Wechsel in die Bundesrepublik beruflich nicht einfach wieder da beginnen können, wo sie aufgehört haben. Zu groß sind oft die Unterschiede in den qualifizierenden Abschlüssen und Berufsinhalten. Im Vergleich zu den Spätaussiedlern werden ihre Berufsausbildungen nicht anerkannt. Dazu kommen Sprachprobleme. Bei den Arbeitsagenturen sind die Neuankömmlinge nicht selten zwar als hochqualifiziert, aber als nicht vermittelbar gemeldet.
Kinder und Jugendliche gewöhnen sich schneller ein, etwa beim Erlernen der neuen Sprache. Doch von den Beratern zunächst nicht immer genau feststellbare Unterschiede bei ihren Vorkenntnissen und Schulerfahrungen erschweren die Umstellung. Jugendliche in der Pubertätsphase müssen dazu auch die Probleme verarbeiten, die aus der abrupten Loslösung von den sie bestätigenden Gleichaltrigengruppen im Herkunftsland kommen.
Die Jüdische Gemeinde Würzburg und Unterfranken steht angesichts der Ankunft der neuen Zuwanderer vor einer ihrer schwierigsten Aufgaben in ihrer langen Geschichte. Die Neuankömmlinge kennen die Anforderungen einer orthodox-jüdischen Lebensgestaltung nicht oder nur unvollkommen. Sie haben seit zwei Generationen keinen jüdischen Religionsunterricht mehr erhalten. Es fehlt ihnen oft in jeder Hinsicht an “Jüdischheit”. Solche Umstände verlangen von den Würzburger Juden, deren Erscheinungsbild zu allen Zeiten bewusst und unterscheidbar traditionell geprägt war, eine beispielhafte Integrationsleistung.
Umgekehrt kann die Jüdische Gemeinde über die ihr zuwachsenden Migranten ein beträchtliches kulturelles und künstlerisches Potential gewinnen. Viele unter den Neuankömmlingen sind Ingenieure, Lehrer, Ärzte, Forscher, Juristen, Musiker, Maler und Journalisten. Deutschland war von den Zuwanderern schon vor ihrer Ankunft nicht als fremdes Land wahrgenommen worden. Immerhin sind sie die Nachkommen westeuropäischer Juden, von hier stammen ihre Wurzeln, die jiddische Sprache. Bemerkenswert ist, dass viele Familien bei ihrer Einreise hunderte von Büchern - mitunter ganze Bibliotheken - und darunter viele Werke deutscher Autoren mit nach Deutschland gebracht haben.
Ella Bulatova (Violine) und Alexander Bulatov (Vibraphon) gestalteten die musikalische Umrahmung anlässlich der Feierlichkeiten zum 40-jährigen Bestehens der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Würzburg und Unterfranken e.V. am 3. März 2002 im Mainfrankentheater Würzburg