Kultur meint immer auch Erinnerungskultur. Das Erinnern an eine gemeinsam bewohnte und gemeinsam bestandene Vergangenheit schafft Vertrauen, Orientierung und Hoffnung in der Gegenwart. Es stiftet dort Legitimation sowie Autorität. Und nicht zuletzt legt es den eigenen, unterscheidbaren Identitätsindex fest. Auch die uralte Jüdische Gemeinde in Würzburg verankert sich in einem solchen „kulturellen Gedächtnis“.
Ähnliches gilt für zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der die Jüdische Gemeinde in Würzburg ein weiteres Mal europäische Geltung erreichte. Damals stemmte sich der „Würzburger Rav“, der Rabbiner Seligmann Bär Bamberger, gegen die Wellen der jüdischen Reformbewegung. Er war der Mann einer besonnenen Orthodoxie, der sich unter anderem der Aufforderung des einflussreichen Frankfurter Rabbiners Samson Raphael Hirsch verweigerte, die Gebetsgemeinschaft mit sich reformierenden Juden zu verlassen und "Austrittsgemeinden“ zu eröffnen. Seit Seligmann Bär Bamberger gibt es im „kulturellen Gedächtnis“ der Würzburger Juden so etwas wie eine „Würzburger Orthodoxie“.
Alle solche Erinnerungen dienen in einem Museum der besonderen Art als Wegweiser zur Darstellung traditionellen jüdischen Lebens in unserer Zeit. Es ist kein herkömmliches Museum oder einer weitere Gedenkstätte. Die Besucher können erfahren, was Judentum in seiner orthodoxen Substanz ist. Es werden also nicht kulturgeschichtliche Werte vorgeführt, sondern die historische Kontinuität des Traditionell-Jüdischen liefert den Maßstab. Mit modernsten pädagogischen Mitteln ausgestattet und den „Judensteinen“ als kollektives Gedächtnis jüdischer Würzburger Geschichte zeigt das Museum ein modernes und gleichzeitig traditionell-jüdisches Leben. Für ein solches jüdisches „Erlebnishaus“ gibt es nirgendwo in Europa Vorbilder.
Das Museum der Jüdischen Gemeinde Würzburg
Das Gebäude um ca. 1600 nach dem Stich von Matthäus Merian
Die Mauern nach der Zerstörung Würzburgs durch den Bomben- angriff vom 16. März 1945
Würzburg mit dem Stadtteil Pleich
Das Gebäude der „Landelektra“ im Januar 1987 kurz vor dem Abriss
Das wiedererstandene Gebäude der „Landelektra“ nach 1945
Innerhalb von wenigen Wochen wurden 1504 Grabsteine und Grabsteinfragmente geborgen. 70 Tonnen
David Schuster s.A.
auf der Baustelle
Transport der Steine zum Rotkreuzhof
Reinigen und Photographieren der Steine
In acht Semestern verbrachten 175 Studentinnen und Studenten der theologischen Fakultät an der Universität Würzburg 4271 Arbeitsstunden damit, die mittelalterlichen Grabsteine zu reinigen, zu registrieren und zu photographieren.
Zwei Steine wandeln ihr Aussehen
Marienkapelle
Grabstein für einen Juden aus Frankreich, ”der Franzose” (Nr. 1288)
Stein für einen Juden aus England
(”Von den Inseln des Meeres”), (Nr. 999)
Grabstein für einen Parnas (Nr. 815)
Der jüngste Stein aus dem Jahr 1346
Die Lage des Friedhofs
(Stich von Sebastian Münster)
Das Juliusspital in seinem ursprünglichen Zustand
(Kupferstich von Johann Leypold, 1603)
Der älteste Stein aus dem Jahr 1129 bzw. 1138
Auf den Grabsteinen schlägt sich der Identitätsindex der mittelalterlichen Judengemeinde in Würzburg nieder. Er erreicht seinen Schwerpunkt dort, wo es um den Bildungsrang geht: hier vor allem verankert sich das Selbstbewußtsein der Juden.
Die hierzu erreichbaren Informationen fügen sich zu einem Gesamtbild, welches das mittelalterliche Würzburg als eine der großen europäischen Metropolen des „Limmud“ und der „Talmud Tora“ - des Studiums der „schriftlichen“ und der „mündlichen Tora“ vorführt.
Grabstein des El’asar ben Rabbi Moscha had-darschan (er starb 1287). Sein Vater war ebenso wie er in ganz Europa anerkannter und geachteter „Exeget“.
Grabstein des Schlomo ben Abraham, des „Lichtes im Exil“.
Dieser Titel ist sonst nur noch einmal belegt: für den Rabbiner Gerschom aus Mainz – einen der größten Halachisten des 11. Jahrhunderts.
Grabstein des Vorbeters Josef ben Natan (gestorben 1218): ein berühmter Verfasser von synagogalen Gedichten (Slichot und Pijutim)
Die Judensteine aus der Pleich – Bilder von Heide Siethoff
Der Eindruck, den die Grabmäler in ihrer statuarischen Unausweichlichkeit bei jedem Betrachter hinterlassen, ist bedrängend.
Die bekannte Würzburger Künstlerin Heide Siethoff hat dazu eine Serie von Bildern gemalt, die im Februar/März 2000 zusammen mit einer erheblichen Anzahl von Grabsteinen ausgestellt wurden.
– er ist traurig
und liebevoll.
Und er saeubert sie
von allem Schmutz.
Und er fotografiert sie,
eines nach dem anderen.
Und er ordnet sie an
auf dem Fußboden
in der großen Halle.
Und er ergaenzt die Grabsteine
und wendet sie einander zu,
ein Bruchstueck nahe an das andere.
Wie bei der Auferstehung der Toten,
wie ein Mosaik,
wie ein Puzzle
– ein Spiel von Kindern.
Auf meinem Tisch
liegt ein Stein,
in den man
“Amen”
ritzte
– ein Bruchstueck,
ein Überlebender
aus tausenden und abertausenden
Bruchstuecken
von zerbrochenen Grabsteinen
in juedischen Friedhoefen.
Und ich
– ich weiß,
daß alle diese Bruchstuecke
jetzt
die große
juedische
Zeitbombe
fuellen
zusammen mit
den uebrigen Bruchstuecken
und Splittern:
den Bruchstuecken von den Tafeln des Bundes
und den Bruchstuecken von Altaeren,
den Bruchstuecken von Kreuzen
und den rostigen Naegeln von einer Kreuzigung,
zusammen mit den Bruchstuecken von Haushaltsgeraeten
und Ritualgefaeßen
und mit den Bruchstuecken von Gebeinen,
und mit Schuhen
und Brillen
und Prothesen
und Gebissen
und mit den leeren Schachteln
für Ampullen mit toedlichem Gift.
All das
füllt
die juedische Zeitbombe
bis zum Ende der Tage.
Und
obwohl
ich über all das
und über das Ende der Tage
Bescheid weiß,
gibt mir
dieser Stein
auf meinem Tisch
Ruhe.
Er ist
ein Stein der Wahrheit,
der sich nicht mehr aendert.
Ein Stein der Weisheit
– weiser
als jeder Stein der Weisen.
Ein Stein
von einem zerbrochenen Grabstein
– und doch ist er vollstaendiger
als alle Art von Vollstaendigkeit.
Ein Stein, der Zeugnis ablegt
von allen Ereignissen
die seit ewigen Zeiten
geschahen
– und von allen Ereignissen,
die in Ewigkeit
noch geschehen werden.
Ein Stein des “Amen”
und der Liebe.
“Amen, Amen”
und
so geschehe sein Wille.
Uebersetzung von Karlheinz Müller